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Frieden in Gefangenschaft?

Als Mensch, dessen Familie in den 1980er Jahren sehr unter dem sowjetischen Machtanspruch gelitten hat, bin ich traurig und entsetzt über das fehlende Mitgefühl vieler, vor allem Ostdeutscher für das ukrainische Volk. Man kann es nicht oft genug sagen: Russland führt einen Angriffskrieg gegen die Ukraine! Die Ukraine ist seit 1991 von der Weltgemeinschaft als souveräner Staat in seinen Grenzen anerkannt. Auch Russland hat die Ukraine völkerrechtlich vollumfänglich anerkannt. Mehr noch: Russland hat im Budapester Memorandum 1994 sogar Sicherheitsgarantien für die Ukraine ausgesprochen, als diese die dort stationierten sowjetischen Atomwaffen freiwillig an Russland übergab. 141 Staaten haben Russland in der UN-Resolution zum bedingungslosen Rückzug aufgefordert, nur 5 Staaten haben dagegen gestimmt. All dies, das Völkerrecht, die Menschenrechte, die europäische Friedensordnung nach 1990, all dies tritt Russland mit seiner Invasion schändlich mit Füßen. Weil Putin ein neues Groß-Russland erschaffen will, das "wiedervereint" mit Belarus und der Ukraine auch in Zukunft noch als Weltmacht auftreten kann. Und weil Putin verhindern will, dass ein "Gegenrussland" (so nennt es der Kreml selbst) entsteht: ein slawisches Brudervolk, das in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat lebt, mit einer funktionierenden Gewaltenteilung, mit einem gesunden Mittelstand, einem wachsenden Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten. Weil all dies die gesellschaftlichen Defizite Russlands, die Korruption, die Justizwillkür, das Oligarchentum, die bittere Armut insbesondere der Alten und der Landbevölkerung offenlegen würde. Weil eine erfolgreiche Westintegration der Ukraine dem russischen Volk deutlich vor Augen führen würde, welches Leben Ihnen der Machtapparat von Geheimdienst, Armee und Milliardären verweigert. Gerade wir Ostdeutsche sollten doch verstehen, warum die Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer erbittert dafür kämpft, in einem freien Land leben zu dürfen? Wer das falsch findet und die Waffenlieferungen einstellen will, der kann Putin auch gleich den Schlüssel zum Bundestag in die Hand drücken. Danach sollte man dann aber lieber auf kritische Leserbriefe verzichten - sonst geht es schnell ins Arbeitslager nach Sibirien.

Christian Semlow, Kritzmow, 26.06.2024

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