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Von der Kunst der Analyse

Bei Sportwettkämpfen geht es ziemlich übersichtlich zu; es gibt Gewinner und Verlierer. Manchmal endet ein Spiel auch mit einem Unentschieden. Dann betrachtet sich der vermeintliche Außenseiter als eigentlicher Sieger und der vermeintliche Favorit als Verlierer. Dass es bei der Zuordnung der Favoritenrolle durchaus Probleme geben kann, machte kürzlich einer der vielen Fußballexperten hoffentlich ungewollt deutlich, als er bei der Analyse der EM-Vorrundengegner der deutschen Nationalmannschaft zu dem überraschenden Schluss kam, wir hätten eine wirklich schwere Gruppe erwischt, denn wir seien in allen drei Spielen eindeutig die Favoriten. Auf so etwas muss man erst einmal kommen. Auch mit der Analyse von Wahlen scheint es nicht so einfach zu sein. In den Elefantenrunden früherer Jahre erklärten sich grundsätzlich alle Parteien zum Sieger; die einen, weil sie mit Mühe einen Prozentpunkt zusätzlich erreicht hatten, und die anderen, weil sie weniger als zuvor prognostiziert verloren hatten. Wenn heutzutage bei Wahlniederlagen nach den Ursachen gefragt wird, kommt häufig als Antwort die erstaunliche Analyse: »Wir müssen eben unsere Politik besser erklären.« Abgesehen davon, dass dem Wahlvolk unterstellt wird, zu dumm für das Verständnis gegenwärtiger Politik zu sein, tritt dabei die Unfähigkeit zutage, die wirkliche Meinung der Menschen zur Kenntnis zu nehmen. Die eigentlich naheliegende Schlussfolgerung, die eigene bisherige Politik zu überprüfen und sie zu ändern, gibt es nicht. Und so läuft man denn selbstsicher und ungebremst auf die nächste Wahlniederlage zu.

Rainer Sabisch, Boizenburg, 17.06.2024

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