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< Zurück zur ÜbersichtWider die Geschichtsvergessenheit
Verschiedentlich kann man in – für mich erstaunlich vielen – Leserbriefen folgende ‚Geschichtsbetrachtung‘ lesen: „Ich will Putins Verhalten nicht verteidigen, aber ich verstehe, warum er sich herausgefordert gefühlt hat.“ Verwundert (oder auch nicht!) reibe ich mir die Augen und fühle mich zurückversetzt in den ‚Polit-Unterricht‘ bei der NVA seinerzeit. „Vom Sinn des Soldatseins“ hieß ein kleines, graues Büchlein, das allen Soldaten der Nationalen Volksarmee ausgehändigt wurde. Vom „Profit als Quelle aller Kriege“ war dort zu lesen. Auch von der Überlegenheit des Warschauer Vertrages, insbesondere im konventionellen Bereich, aber auch im Bereich der atomaren Waffen. Ich erinnere mich noch sehr gut an die ‚Fanfarenklänge‘ unseres Hauptfeldwebels St. in B. im Funktechnischen Bataillon V, wie er den Organisationsgrad der Truppen des Warschauer Vertrages über alle Maßen lobte. Das alles, so die Doktrin seinerzeit, führte doch dazu, dass eben 1953 in Berlin, 1956 in Ungarn, 1968 in der damaligen CSSR die sogenannte ‚Konterrevolution‘ nicht siegte. Und ich erinnere mich an die staunenden Blicke der politischen Entscheidungsträger, als es seinerzeit um die Verschrottung der überzähligen NVA-Waffen entsprechend des 2+4-Vertrages ging. Mit solch einer Menge an Waffen, insbesondere an Panzern und gepanzerten Fahrzeugen, hatte man im ‚Westen‘ nicht gerechnet. Der damalige Finanzminister Stoltenberg kam in arge Schwierigkeiten mit seiner Haushaltsplanung… Um es vorweg zu sagen: Natürlich wird die Waffenlobby – und zwar auf allen Seiten! – kräftig (mit)verdienen, ebenso Öl – und Gaskonzerne. Ich sage das deshalb, weil ich den marxistisch-leninistischen Standpunkt kenne, dem noch viele Menschen offensichtlich huldigen. Dabei wird die einfachste Tatsache ignoriert, dass nämlich die Realität viel zu komplex ist, um sie mit einer monokausalen Beschreibung zu erklären. Das trifft auf jeden Verschwörungsmythos zu, aber auch auf den so genannten ‚Klassenstandpunkt‘. Wenn es dem ‚Westen‘ und Russland gelungen wäre, sich gegenseitig so zu respektieren, zu achten und zu akzeptieren, dass nach Abgabe der Atomwaffen in den 90-er Jahren des 20. Jahrhunderts wirkliche Sicherheitsgarantien für die Ukraine gewährleistet würden, dann hätte sich die Frage der NATO-Mitgliedschaft für dieses Land doch gar nicht gestellt. Sie stellte sich – und zwar viel zu spät! - als die Ukraine mitbekam, dass die russische Führung um den ‚lupenreinen Demokraten Putin’ selbst einen EU-Beitritt – obwohl eine überwältigende Mehrheit in der Ukraine diesen anstrebte und anstrebt – kategorisch verweigerte und verweigert. Was soll die Propaganda-Lüge um die NATO-Osterweiterung? Warum wohl wollten die kleinen baltischen Staaten in die NATO oder eben auch andere osteuropäische Staaten? Die Antwort gab Wladimir Putin in Tschetschenien, in Kasachstan, in Weißrussland, in Georgien, im Donezk-Becken, auf der Krim und jüngst mit der offenen Aggression in der Ukraine. Zuvor hat er die brutale, menschenverachtende Kriegsführung in Syrien noch einmal ‚verfeinert‘, um zu schauen, wie effizient seine Soldateska funktioniert. Für alle ‚Klassenkämpfer‘ dann doch noch dieses: Der Hinweis auf ‚Untaten des Westens‘, der ja immer wieder angeführt wird - mag er noch so sehr zutreffen – rechtfertigt nie und nimmer eigene Aggressionen und Kriege! Erst recht keinen Völkermord! Muss man das wirklich eigens betonen?“! Aber es geht in der Ukraine ja längst nicht mehr um Krieg zwischen Streitkräften. Es geht um Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung, um kaum zu ertragende Gräuel an Wehrlosen, um einen Genozid, um das Ausradieren eines ‚Brudervolkes‘, das in der ‚Umarmung‘ erdrückt werden soll. Weil es sich eben nicht einfügt in den Chauvinismus eines Führers, dessen Rhetorik geprägt ist von Großmachtstreben und absolutem Herrschaftswillen. Meint denn wirklich jemand, dass das riesige russische Reich in der Geschichte ausschließlich zustande kam, weil Völker nichts anderes wollten als unter die paradiesische Zarenherrschaft zu kommen? Meint jemand allen Ernstes, dass der Untergang der „ruhmreichen Sowjetunion“ mit ihrer „siegreichen Armee“, die den „großen Vaterländischen Krieg“ gegen Hitler-Deutschland gewann und anschließend so viele Völker in Osteuropa ‚befreite‘, dass diese Niederlage einfach so hingenommen wird? Meint wirklich jemand allen Ernstes, dass das politisch-historische Trauma von 1989 in irgendeiner Weise aufgearbeitet worden ist? Meint jemand wirklich, dass ein ehemaliger hoher Offizier der russischen Staatssicherheit eine ‚Friedenstaube‘ wird, wenn er die Macht eines gewaltigen Staatsapparates in die Hände bekommt? Da ist ihm jedes Narrativ recht, um seine Aggression zu begründen, die in seinem Komplex begründet liegt, keine Großmacht mehr zu sein. Hier – in der mangelnden Sensibilität für eine erlittene historische Schmach – mag ein großer Fehler des Westens liegen. Ebenso für die Unterschätzung dieses Mannes im Kreml, mit dem sich bisher ja wunderbar Geschäfte machen ließ. Die Frage nach dem Preis offenbart sich nicht erst jetzt. Jetzt aber besonders brutal! „Entnazifizierung“ und Demilitarisierung – das pass nicht nur als Erzählung und Begründung immer! Der Befehlshaber im Kreml hat durchaus beim Begriff „Entnazifizierung“ einen Hinweis gegeben, mit wem wir es wirklich zu tun haben! Ich warte nur noch auf die Aussage, dass es sich um die „Erfüllung der historischen Mission der Arbeiterklasse“ bei all dem handelt… Ich empfehle, einmal nachzulesen bei Zbigniew Brzezinski „Die einzige Weltmacht“. Sowohl Genscher als auch Schmidt, die heute wieder viel zitiert werden, haben dieses Buch dringend empfohlen. Brzezinski schrieb noch vor der Jahrtausendwende: „Wenn die Ukraine als unabhängiger Staat überleben soll, wird sie eher mit Mitteleuropa als mit Eurasien zusammengehen müssen. Soll sie zu Mitteleuropa gehören, wird sie an den Bindungen Mitteleuropas zur NATO und der Europäischen Union voll teilhaben müssen. Akzeptiert Russland diese Bindungen, dann legt es sich damit in seiner Entscheidung fest, selbst Teil von Europa zu werden. Russlands Weigerung wäre gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, dass es Europa zugunsten einer eurasischen Identität und Existenz den Rücken kehrt.“
Rudolf Hubert, Schwerin, 22.03.2022