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< Zurück zur ÜbersichtWahlprüfsteine
Wenn ich manche Leserbriefe der jüngeren Zeit zur Bundestagswahl auf mich wirken lasse, fällt mir auf, dass einige Dinge so gut wie kaum genannt werden. Z.B. müssen fast immer rechtliche Positionen in Europa, im Bund, im jeweiligen Bundesland und in der jeweiligen Kommune in Übereinstimmung stehen bzw. gebracht werden, müssen Zuständigkeiten beachtet werden. Von diesen vielfältigen und komplizierten Bemühungen und Aushandlungsprozessen lese ich kaum etwas. Mir fällt auf, dass über Menschenwürde und Menschenrechte oft nur sehr abstrakt gesprochen wird, ohne Bezugnahme auf deren hinreichendes Fundament. Gibt es für manch‘ einen ‚Meinungsmacher‘ keines außer dem reinen politischen Pragmatismus? Ähnlich verhält es sich mit Gemeinwohl, Personenwürde, Solidarität und Subsidiarität. Das sehr komplexe Miteinander und Zueinander dieser Güter und Werte findet kaum eine hinreichende Analyse in den Meinungsäußerungen. Es wird stattdessen oft vom „Druck auf die Außengrenzen“ Europas gesprochen, von kommunalen Überlastungen, ebenso von europäischen Regelungen, die nicht hinreichend umgesetzt werden, usf. Ich will das im Einzelnen gar nicht bestreiten, doch die Wirklichkeit ist umfassender. Fast nie lese ich, dass wir in Deutschland und in Europa zumeist privilegiert sind im Verhältnis zu überwiegend ganz anderen Bevölkerungsschichten in anderen Ländern und auf anderen Kontinenten. So gut wie kaum lese ich, dass global (endlich!) dafür zu sorgen ist, dass Rahmenbedingungen – und zwar überall – geschaffen werden müssen, die allen Menschen echte Chancen zur Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt ermöglichen. Wie anders will man denn sonst Menschen in ihren Heimatländern eine Perspektive bieten? Klartext: Wer Flüchtlingsursachen bekämpfen will, muss dafür Sorge tragen, dass unsere Art zu wirtschaften nicht permanent andere Länder, ganze Kontinente ausbeutet und ausplündert. Mich erinnert dieses beredte Schweigen an Wahlkampfständen, in Zeitungen und in sozialen Netzwerken an Brechts Gespräch zwischen einem Armen und einem Reichen, das mit dem Ausspruch endet: „Wäre ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ Das alles ist so evident, dass ich daraus einen Schluss ableite, der für mich ‚Wahlprüfstein‘ ist: Überall dort, wo es uns gelingt, für die komplexe und komplizierte gesellschaftliche Wirklichkeit zu sensibilisieren, leisten wir einen Dienst am demokratischen Gemeinwesen. Das gilt auch für Parteien, die sich um die Wählergunst bemühen. Und überall dort, wo Parteien und ‚Meinungsmacher‘ die komplexe und komplizierte gesellschaftliche Wirklichkeit ausblenden und stattdessen einfache Lösungen und ‚Patentrezepte‘ anbieten bzw. versprechen statt komplexer Lösungsversuche, komplexer Strategien und eine (Rück)Besinnung auf fundamentale Rechte und Werte, handelt es sich – noch jenseits der Details der Parteiprogramme – um Scharlatanerie, um Lügen, um Populismus.
Rudolf Hubert, Schwerin, 31.01.2025