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Die Geschichte der Stadt Neubrandenburg und des Landkreises Strelitz während der Zeit des Nationalsozialismus ist eine Geschichte des Schweigens und der Verdrängung. In dieser Region, wie auch an vielen anderen Orten in Deutschland, fanden damals systematische Enteignungen und Verfolgungen von jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern statt. Diese dunkle Vergangenheit wirft viele Fragen auf: Wer hat sich an jüdischem Eigentum bereichert? Warum schweigen die Bürgerinnen und Bürger noch heute? Und wer trägt die Verantwortung für die Geschehnisse dieser Zeit? Vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten lebten in Neubrandenburg und im Umland zahlreiche jüdische Familien, die aktiv am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben beteiligt waren. Sie besaßen Geschäfte, betrieben Handwerksbetriebe und trugen zur kulturellen Vielfalt der Stadt bei. Doch mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten begann ein beispielloser Prozess der Entrechtung und Verfolgung, welcher das Leben der jüdischen Bevölkerung grundlegend veränderte. Vereine, Schulen und synagogale Gemeinschaften wurden aufgelöst, und die Diskriminierung nahm zu. Ab 1933 gab es immer mehr Vorschriften, die Juden das öffentliche Leben und die Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg erschwerten. Diese Maßnahmen gipfelten im Novemberpogrom 1938, als Synagogen niedergebrannt und Geschäfte verwüstet wurden. Viele jüdische Bürgerinnen und Bürger sahen sich gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, während andere in den Konzentrationslagern ihr Leben verloren. Die Enteignung jüdischen Eigentums war ein zentraler Aspekt der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik. In Neubrandenburg und in anderen Orten wurden zahlreiche jüdische Geschäfte und Privateigentum zwangsweise verkauft oder geplündert. Oft geschah dies unter dem Vorwand, die Eigentümer seien „untragbar“ geworden, oder sie wurden gedrängt, ihre Geschäfte, Häuser, Hausrat, u.a. zu einem lächerlich geringen Preis abzugeben. Diejenigen, die sich an diesen Enteignungen bereicherten, sind nicht nur die Täter, sondern auch die Mitläufer, die in dieser Zeit von den wirtschaftlichen Vorteilen profitierten oder einfach wegsahen. Das Wissen um die Schicksale der jüdischen Nachbarn wurde ignoriert oder verdrängt. So entstand ein Klima des Schweigens, das bis heute nachhallt. Warum schweigen die Bürgerinnen und Bürger Neubrandenburgs und des Landkreises Strelitz? Dieses Schweigen kann auf verschiedene Faktoren zurückgeführt werden. Zum einen spielt oft die historische Unkenntnis eine Rolle. Viele Menschen wissen wenig über die Geschehnisse in ihrer Heimat während des Nationalsozialismus. Jüdische Biografien und deren Geschichten blieben lange im Verborgenen, da sie in der Nachkriegszeit weder aufgearbeitet noch thematisiert wurden. Darüber hinaus gibt es in vielen betroffenen Gemeinschaften ein Gefühl der Scham oder des Versagens. Die Frage nach der eigenen Verantwortung stellt sich oft als unangenehm dar, und viele ziehen es vor, die Vergangenheit ruhen zu lassen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, nicht nur die Täter zu benennen, sondern auch die passiven Komplizen, die möglicherweise von den Gräueln wussten, aber nicht handelten. In den letzten Jahren hat sich jedoch ein Umdenken vollzogen. Immer mehr Menschen suchen nach den Wahrheiten vergangener Tage. Es gibt Initiativen und Projekte, die sich mit der Aufarbeitung der Geschichte in Neubrandenburg und der Region beschäftigen. Historische Recherchen, Gedenkveranstaltungen und Ausstellungen tragen dazu bei, das geschichtliche Gedächtnis wiederzubeleben und den Opfern ein Gesicht zu geben. Die Erhaltung der Erinnerung an die jüdische Gemeinschaft ist ein entscheidender Schritt, um das Schweigen zu brechen und eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit zu fördern. Dazu gehört auch, die Namen der Opfer sowie derjenigen, die von den Enteignungen profitierten, sichtbar zu machen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist schmerzhaft, aber notwendig. Neubrandenburg und der Landkreis Strelitz haben eine Verantwortung, diese Vergangenheit aufzuarbeiten und den Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung zu gedenken. Schweigen ist kein Zeichen von Stärke, sondern von Ignoranz. Wir müssen die Stimmen der Vergangenheit hören und den Mut aufbringen, uns mit der Wahrheit auseinanderzusetzen. In einer Welt, die oft von Intoleranz und Vorurteilen geprägt ist, ist die Erinnerung an die jüdische Vergangenheit und das Verständnis der Mechanismen der Verfolgung wichtiger denn je. Nur durch Bildung, Offenheit und das Eingeständnis unserer eigenen Geschichte können wir sicherstellen, dass sich solche Gräueltaten niemals wiederholen. Letztlich liegt es an jeder und jedem Einzelnen, Verantwortung zu übernehmen und für eine Gesellschaft einzutreten, die auf Toleranz, Respekt und Menschlichkeit basiert. Es ist an der Zeit, das Schweigen zu brechen und den Opfern die Anerkennung zuteilwerden zu lassen, die sie verdienen. Wann werden Forschungsaufträge an Historiker vergeben und wann werden die Gerichte die Akten öffentlich machen?
André Rohloff, Neubrandenburg, 30.12.2024