Ich heiße Horst Matthies und wurde im März 1939 in Radebeul bei Dresden geboren.
Als ich sechs Monate alt war, begann mit dem Einmarsch deutscher Soldaten in Polen das zweite große Morden in der Geschichte des Jahrhunderts, in das ich hineingeboren wurde. Davon bekam ich natürlich nichts mit. Lebte ich doch nicht in Polen, sondern in Sachsen. Außerdem, was bekommt man schon mit vom Weltgeschehen, wenn man sechs Monate alt ist? Nun ja, vielleicht, dass ich in den folgenden sechs Jahren keinen Vater hatte, der mit mir Fußball spielte oder Drachen baute oder mich lehrte, welche Pilze essbar sind und von welchen man lieber die Finger lässt. Er reparierte in dieser Zeit Flugzeuge, wenn sie Schaden genommen hatten, beim Bombardieren von Städten und Dörfern oder beim Beschießen von Frauen und Kindern, die auf den Feldern arbeiteten. Auch der Hunger sollte siegen helfen, wie man inzwischen weiß. Selber hatte er nicht geschossen, niemals, wie er später immer beteuerte. War er deshalb weniger schuldig an den 50 Millionen Toten, die am Ende zu zählen waren? Aber was sagt schon so eine Zahl? Und was sagt schon das Wort Krieg, wenn sich das Töten weit entfernt vollzieht?
Als ich sechs Jahre alt war, war dieses Töten dann auch zu mir gekommen. Das war in der Nacht vom 12. zum 13. Februar 1945, als wir von den Lößnitzer Höhen auf das brennende Dresden blickten und das Heulen der in den Himmel schießenden Flammen wie das verzweifelte Schreien von Menschen klang. Ein Geräusch, das mir noch viele Jahre die Knie zittern ließ, wenn ich eine Sirene hörte. Noch nachhaltiger aber hat sich in dieser Nacht ein Satz meiner Großmutter in mein Bewusstsein gebrannt. Sie stammte aus Posen und war von dort samt ihrer elf Kinder vertrieben worden, als Deutschland schon aus dem ersten großen Morden nicht als Sieger hervorgegangen war. Sie sagte in das entsetzte Schweigen hinein, mit dem wir auf die brennende Stadt blickten: »Und recht geschiehts uns!« Vielleicht hatte sie dabei nur an Sodom und Gomorra gedacht. Sie war eine gläubige Frau. Und vielleicht hätte ich mir diesen Satz auch gar nicht gemerkt, wenn nicht unser Nachbar darauf »Und Sie kriegen wir auch noch!« erklärt hätte. Der streifte zu dieser Zeit noch Abend für Abend in SA-Uniform durch die Siedlung und kontrollierte, ob in jedem Haus das Verdunklungsgebot eingehalten wurde.
Als ich fünfzehn Jahre alt war, wurde mir bewusst, was der Satz meiner Großmutter eigentlich sagte. Ich lernte damals Bergmann, in Zwickau, in der Steinkohle. Unser Ausbilder hieß Kaspar. Wir nannten ihn Zettelkaspar. Denn er trug immer ein mit Zetteln und Zeitungsausschnitten gespicktes Notizbuch mit sich herum. Und wenn wir Lehrlinge uns in den Pausen, tausend Meter unter der Erde, gegenseitig die Welt erklärten, holte er ab und zu dieses Notizbuch aus seiner Jackentasche und las uns einen dieser Zettel vor. So auch im Juni 1954, als wir nach dem »Wunder von Bern« wieder einmal die Größten waren. Es war ein Brief Bertolt Brechts an einen Kongress von Künstlern und Schriftstellern. Darin heißt es: »Das große Karthago führte drei Kriege. Es war mächtig noch nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr aufzufinden nach dem dritten.« Und außerdem: »Drum lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen und wenn es wie Asche in unseren Mündern ist. Denn der Menscheit drohen Kriege, gegen die alle bisherigen wie hilflose Versuche sein werden. Und sie werden kommen, ohne Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten nicht die Hände zerschlagen werden.«
Als ich sechsunddreißig Jahre alt war, fügte sich zu diesen Sätzen eine Zahl, von der seitdem mein Denken und Handeln wesentlich bestimmt wird. Ich arbeitete als Tiefbauarbeiter in der Ukraine an der Drushbatrasse, im Sommer bei bis zu 35 Grad plus, im Winter bei fünfundzwanzig bis dreißig Grad minus. Abends saßen wir in unseren Bauwagen, tranken ukrainischen Selbstgebrannten und sangen, was uns an Liedern so einfiel: »Herrlicher Baikal« und »Spaniens Himmel« und »Im Frühtau zu Berge«. Als aber einmal einer »Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein« anstimmte, schlug ein anderer mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Das nicht!« Der war um einiges älter als wir anderen und schon einmal in der Ukraine gewesen, mit diesem Lied auf den Lippen und der Angst im Nacken, was passieren könnte, wenn die »taktischen Rückzüge«, in die sich die einstigen siegreichen Vormärsche gewandelt hatten, nicht an den deutschen Grenzen zu stoppen sein würden. Denn er wusste ja, dass man während des Siegens nicht nur fröhliche Lieder gesungen hatte. Und inzwischen wusste er noch mehr, als zu jener Zeit. Wozu auch diese Zahl gehörte, von der er uns dann erzählte. 33.771. Sie waren aufgefordert worden, sich mit Gepäck am Bahnhof einzufinden, wurden dann aber nicht in Züge verladen, sondern zu einem Friedhof am Rande der Stadt getrieben, wo sie sich nackt ausziehen und in einer nahe gelegenen Schlucht vor eine Lehmwand treten mussten. Dann wurden sie erschossen, Männer, Frauen, Kinder, 33.771, in 36 Stunden, am 29. und 30. September des Jahres 1941, in der Schlucht von Babij Jar bei Kiew. (Nachzulesen in dem am 2. Oktober 1941 beim Reichssicherheitshauptamt in Berlin eingegangenen »Ereignismeldungen UdSSR« unter der Nummer 101 registrierten Bericht des kommandierenden Offiziers, Paul Blobel und den Schilderungen des an dieser Aktion beteiligten Mitglieds des Sonderkommandos 4a der Einsatzgruppe C, Kurt Werner, bei den Nürnberger Prozessen 1947.)
33.771 Menschen, zusammengetrieben, gedemütigt, ausgeplündert, erschossen und als »Ereignis« auf einer eigens dafür eingerichteten Liste registriert. Als Ereignis 101 aus 101 Tagen seit dem 22. Juni 1941, dem Tag des Überfalls auf die Sowjetunion. Wie viele unregistrierte »Ereignisse« wären da hinzuzudenken? Und wie viele mögen es in den 1.128 Tagen seit dem Einmarsch in Polen am 1. September 1939 gewesen sein? Und sage mir keiner, das sei »der Hitler« gewesen oder »die SS«. Es waren junge deutsche uniformierte Männer, manche schon Familienväter. Und sie taten es bedenkenlos, wenn nicht gar mit Lust. Denn sie waren unter Verhältnissen aufgewachsen, wo es legitim war, als »unwert« befundenen Menschen den Aufenthalt in Schwimmbädern und Parks zu verweigern oder die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln und Fußwegen. Wo Liebe zwischen »Deutschblütigen« und jeglichen »Anderen« zur Rassenschande erklärt und verfolgt wurde. Und wo man wusste, was es bedeutete, wenn solche »Anderen«, auf LKWs verladen oder aufgefordert wurden, sich mit Gepäck an Bahnhöfen einzufinden.
Jetzt bin ich zweiundachzig Jahre alt. Ich gehöre zu denen, die noch wissen, wie man sich fühlt, wenn aus weißen Wolken, schwarze Punkte fallen und sich zum kreischenden Geheul angeifender Sturzkampfflieger das Rattern ihrer Maschinengewehre gesellt, deren Geschosse rechts und links der Ackerfurchen einschlagen, in denen man sich zu verbergen sucht, oder wie schmerzhaft es ist, wenn man nach fünf Kilometern Fußmarsch mit der blechernen Milchkanne in der Hand und zwei Stunden Anstehen beim Fleischer nach Wurstbrühe der ist, der als Erster nichts mehr abbekommt. Wo das Wort Kälte sich nicht mit der Gewissheit verbindet, bald eine Tür hinter sich schließen und die Hände gegen einen warmen Ofen halten zu können. Und wo das Wort »gefallen« nicht bedeutet, dass einer über eine Bordsteinkante gestolpert und zu Boden geschlagen ist, sondern, dass zwei oder drei oder vier Kinder ohne Vater aufwachsen werden. Als Großvater von fünf Enkeln erschrecke ich, wenn ich verfolge, was sich am Anfang des Jahrhunderts, in das sie hineingeboren wurden in, unserem Land vollzieht.
Drei Generationen. Die Angehörigen der ersten, die noch wussten, wovon sie redeten, erklärten: Lieber ein Leben lang trocken Brot, als je wieder Krieg. Nachdem sich die der zweiten an Lachs zum Sonntagsfrühstück gewöhnt haben, sind sie bereit, jenen aus der dritten Generation Beifall zu klatschen, die, wegen der Gefahr, etwas Schaum vom täglich Bier abgeben zu müssen, Menschen durch Straßen hetzen, Häuser in Brand setzen und Politiker, die einfach nur etwas Menschlichkeit einfordern, als Volksverräter beschimpfen und mit dem Tode bedrohen. Könnte man aber denen, die als Wahlberechtigte im Jahr 1931 ihr Kreuzchen bei der NSDAP gemacht hatten, noch zugestehen, dass sie nicht wissen konnten, was daraus werden würde, kann diese Unschuldsvermutung für diejenigen nicht gelten, die heute ihre Stimme jener Mein-Bauch-zuerst-Partei geben, deren Wortführer öffentlich dafür eintreten, Menschen als »unwert« zum Leben in diesem Land einzustufen, sie in Sammellagern zu erfassen und zum Besteigen diverser Transportmittel zu veranlassen, um sie fortzuschaffen. Was heißt, wer heute sein Wahlrecht nutzt, um diesen zu Einfluss auf unser aller Leben zu verhelfen, dürfte wissen, was daraus werden kann. Also muss man davon ausgehen, dass er bereit ist, solches in Kauf zu nehmen, wenn nicht gar herbei zu wünschen. Wehe unseren Enkeln, wenn das eine Mehrheit werden sollte!
Hohen Viecheln, im August 2021