Manch‘ Leserbriefautor scheint sich der Versuchung hinzugeben, beispielsweise angesichts der Wahlergebnisse in unserem Land, mit allzu markigen Sprüchen aufzutrumpfen. Dabei wird vorgegeben, dass es die Absicht sei, „größeren Schaden“ (für) demokratische Staaten und Gesellschaften abzuwenden.“ Da kann ich nur sagen: „Die Botschaft hör‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Denn wenn ich lese: „Die Uhren sind abgelaufen für arrogante, ignorante Volksparteien ohne Volk…“ Oder: „Da hilft nur der berühmte eiserne Besen, um diesen Augiasstall gründlich auszumisten.“ – wird mir buchstäblich ‚Angst und Bange.‘ Wenn das Thema nicht so ernst wäre, könnte man darüber einfach hinweggehen oder höflich und bestimmt darauf verweisen, dass es in unserem Land schon einmal jemanden gab, der auf billigen Stimmenfang ging, ausgerechnet mit dem Satz, dass es seine Aufgabe sei, den „Saustall endlich auszumisten“. Mit dem ‚Saustall‘ war seinerzeit das demokratisch gewählte Parlament gemeint. Doch das Thema ist ja viel zu ernst und zu relevant, um zu schweigen oder zu ironisieren, etwas nach dem Motto: „Deine Sprache verrät dich“. Es scheint doch so zu sein, dass man mit derartigen Verurteilungen der Komplexität der Wirklichkeit nicht gerecht zu werden vermag. Die Realität lässt es nicht zu, dass komplizierte gesellschaftliche Zusammenhänge allzu sehr vereinfacht werden! Wer einmal in die Arbeit von Fachausschüssen hinein ‚geschnuppert‘ hat, weiß sehr genau, was ich meine. Alleine die Tatsache des Föderalismus, der Gewaltenteilung und der fast unbeschränkten und unbegrenzten Informationsmöglichkeiten – demokratische Errungenschaften, die teuer erstritten und erkauft wurden – lassen per se keine allzu einfachen Lösungen für komplizierte gesellschaftliche Probleme zu. Das ist der Preis einer offenen Gesellschaft, der Preis der Partizipation, der Teilhabe möglichst Vieler an der Gestaltung und Verantwortung für das Gemeinwesen. Zugegeben, es ist alles andere als einfach, die berechtigten Interessen des Gemeinwohls, des Klimaschutzes, des sozialen Ausgleichs etc. gegen anderslautende, starke Interessen durchzusetzen. Das lehrt schon die Analyse von Karl Marx, der leider weder einen hinreichenden Grund für gesellschaftliches Engagement und nur ein illusionäres Ziel der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft anzugeben vermochte.
Ein Zweites: Es ist immer leicht, sich selbst möglichst ‚außen vor zu lassen‘ und auf Andere zu zeigen. Erst recht gilt dies bei Schuldzuweisungen. Der Sündenbockmechanismus ist nur allzu bekannt, seine Motive auch! Mitunter kann man sich bei derlei Fragen ja auch einmal die Weisheit kirchlicher Tradition nutzbar machen. Immerhin hat das Christentum Europa in kaum zu überschätzendem Maß geprägt, denn es ist kein Zufall der Geschichte, dass ausgerechnet in Europa die großen Maximen der Aufklärung wie Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit entstanden sind.
Und ein Letztes: Ich halte in diesem Zusammenhang die Meinung eines großen Theologen in Bezug auf seine Kirche nicht nur für richtig, sondern auch für übertragbar auf unsere Gesellschaft. Allein schon deshalb, weil es nicht nur um Strukturen und Mechanismen geht, sondern auch und vor allem um das eigene, das persönliche Engagement:
„Was muss ich in meiner konkreten Situation tun, ich als einzelner und ich in Gemeinschaft mit anderen…in der heutigen Welt (gegen) den Ungeist des Egoismus und des Hasses, den Ungeist der Suche nach Macht, der Gewaltanwendung, des Skeptizismus in Fragen der Bedeutung und des Wertes des Lebens…?“ (Karl Rahner)
Wir sind weder Marionetten noch Befehlsempfänger. Als Bürger eines demokratischen Gemeinwesens sind wir auch keine ‚Projektionen‘ irgendwelcher ‚Eliten‘. Nein, wir sind das Volk! Dieser Satz aus den Jahren der friedlichen Revolution von 1989 ist heute und sicher auch morgen in Geltung. Vielleicht ist das ein Trost und hinreichender Grund für die nötige Portion Gelassenheit – gerade am Vorabend des 09.November.