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Nur wer die Sehnsucht kennt...

Da läuft in Greifswald die Jugend in blauen Hemden und Blusen der ehemaligen FDJ herum und bezieht sich auf eine Vergangenheit in Deutschland, die weder Einigkeit noch Recht noch Freiheit kannte. Da gibt es politische Kräfte, die „Deutschland, aber normal“ und „unser Land zuerst“ skandieren, ohne angeben zu können, was ‚normal‘ ist und bei was denn unserem Land die erste Rolle zugestanden wird. Es ist schon bizarr, was sich derzeit auf dem breiten politischen Markt der Möglichkeiten derzeit alles so tummelt. Als ob der Kompass verlorengegangen ist, so scheint es. Denn hinter allem Völkischen und hinter ‚post-kommunistischen‘ Idealen steckt – ja was eigentlich? Eine tiefe Sehnsucht nach Sinn, nach Glück, nach Erfüllung? Die Muster hinter diesen skurrilen Äußerungen scheinen sich jedenfalls zu ähneln. Vielleicht ist es darum gut, bei Frauen und Männern sich Auskunft einzuholen, die lange vor unserer Zeit sich tiefgründig mit derlei Fragen beschäftigt haben. Einer von ihnen, Karl Rahner, war ein weltweit bekannter Theologe, der bereits 1980 (!) in einem vielbeachteten Aufsatz schrieb: „Aus dieser schrecklichen Tendenz, einzelne Wirklichkeiten und Werte absolut zu setzen, zu vergöttlichen, zu vergötzen… erwachsen dann Fanatismus der Weltanschauungen, die entsetzliche Intoleranz der gesellschaftlichen Systeme, die tobende Lautstärke der Propaganda, die arrogante und entsetzlich dumme Schwarz-Weiß-Malerei in der Politik…“ Und an anderer Stelle: „Wo der Mensch keinen Gott hat, in dessen Unbegreiflichkeit er sich willig hineinfallen lassen kann, gerät er unter die Herrschaft partikularer Götzen, in denen die rationale Kalkulation, die Technik, der Stolz, alles machen zu können, das perfekte Funktionieren eines Systems, der Sexus, die Macht und so fort absolut gesetzt monoman zum einzigen Ausgangspunkt und zum je einzigen Richtmaß des Handelns und des Lebens gemacht werden.“ Mir scheint es hilfreich zu sein, für ein Geschichtsbewusstsein und gegen Geschichtsvergessenheit einzutreten. Dabei sollten die Parolen und Plattitüden zunächst befragt werden, was wirklich dahintersteckt, was gemeint ist, wohin sie eigentlich zielen. Womöglich offenbaren sie eine Dimension, die man nur allzu gern verdrängt und nicht wahrhaben will. Vielleicht wird dann auch deutlich, dass ‚Ersatzgebilde‘ für Religion wie Volk, Blut und Boden oder eben Klassenkampf nie halten können, was sie versprechen. Da ist das Zeugnis der Geschichte eindeutig. Der Mensch braucht mehr und er braucht anderes… Vielleicht sollte man Kirchen und Religionsgemeinschaften hierzu befragen.

Rudolf Hubert, Schwerin, 05.08.2024

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