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Dringend notwendig

Wie kann man Friedensverhandlungen zurecht als dringend geboten bezeichnen, im gleichen Atemzug aber selbst nach mehr als zwei Jahren der russischen Aggression dem Westen und der Ukraine noch immer die Schuld zuweisen, dass es schon 2022 keinen Friedensvertrag mit Russland gegeben habe, indem die kursierende Johnson-Legende bemüht wird? Der britische Premier sei im Auftrage der USA und der NATO eigens nach Kiew gereist, um Selensky von der Unterzeichnung des Friedensvertrages abzuhalten? Dass es einen ausgehandelten Friedensvertrag noch gar nicht gegeben hatte, wie behauptet wird, spielt dabei wohl keine Rolle. Es spielt wohl auch keine Rolle, dass zu dieser Zeit enthüllt wurde, was in Butscha und Irpin und anderswo geschehen ist. Es spielt wohl auch keine Rolle, dass die Bedingung der Ukraine, ihr Territorium auf den Stand vor 2014 vollständig zu verlassen, wie es sich nach internationalem Recht nun einmal gehört, von Moskau energisch zurückgewiesen worden ist. Es spielt wohl auch keine Rolle, dass das Volk sich sogar unbewaffnet wehrte gegen die völkerrechtswidrige Invasion der Russen und dass die ukrainische Regierung hinter ihm steht. Es spielt wohl auch keine Rolle, dass es weder eines Befehls aus Washington noch Londons bedurfte, solches zu tun. … Es ist völlig irreführend, die Entschlossenheit der Ukraine zum legitimen Widerstand als Kriegslüsternheit zu denunzieren. Dies kann nur sagen, wer die Tatsache der andauernden russischen Invasion wegwischt und schnell dabei ist, der Selensky-Regierung und der NATO die Schuld am Krieg zuzuschieben. Die Behauptung etwa, „dass nicht Russland, sondern der Westen im Frühling 2022 den Krieg weiterführen wollte“, ist nur nachvollziehbar, wenn man konsequent ignoriert, dass es die Putin-Regierung war, die nach den Verhandlungen ukrainisches Territorium im Süden und Osten besetzt bzw. geraubt hat - und die sich mit den Angriffen auf die komplette Infrastruktur des Landes einer terroristischen Kriegführung bedient und damit die Ukraine zur Unterwerfung unter ihre imperialen Interessen zwingen will. … Der springende Punkt bleibt die Weigerung Russlands, seine Aggression zu beenden, die Truppen zurückzuziehen und das Recht der Ukraine auf territoriale Unversehrtheit anzuerkennen, und bildet bis heute Schranke für einen fairen Verhandlungsprozess. Genau dies musste auch der damalige italienische Premier Mario Draghi bei seiner Friedensinitiative im Mai 2022 erkennen. Er stellt fest, Gespräche mit Putin seien „Zeitverschwendung“, weil die russische Führung nicht von ihrer Position abrückt, dass die Krim und der Donbass nicht Teil der Ukraine seien. Die Formel des Kremls lautet seitdem: Friedensverhandlungen Ja, aber zu unseren Bedingungen. Und: Von den Ergebnissen unserer „militärischen Spezialoperation“, der Annexion nämlich, rücken wir nicht ab. … Es sollte schließlich grundsätzlich bedacht werden: Niemand ist mehr an einer schnellen Beendigung des Krieges interessiert als die Ukrainerinnen und Ukrainer, welche die Hauptfolgen der andauernden Kämpfe zu tragen haben. Warum sollten sie sich Gesprächen über einen raschen Friedensschluss verweigern? Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan hat dies in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels eindrucksvoll dargelegt, worin er u. a. resümierte mit Blick auf Moskau: „Freiheit ist Freiheit. Niedertracht ist Niedertracht.“

Haiko Hoffmann, Schwerin, 23.05.2024

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