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Gottlob Frege und der Antisemitismus

In Ihrem Artikel „35. Frege-Wanderung – Hansestadt und Wanderfreunde erinnern an Wissenschaftler“, der am 5. Mai 2024 im Wismarer Blitz am Sonntag erschienen ist, berichten Sie über das Gedenken an den aus Wismar stammenden Philosophen und Mathematiker Gottlob Frege, das jährlich mit Wanderungen in Wismar und Umgebung begangen wird. Negativ aufgefallen ist mir dabei eine Tendenz, die ich im Gedenken an Gottlob Frege häufig beobachte: Dass seine sehr problematischen politischen Standpunkte unter den Tisch fallen gelassen werden. Frege äußerte sich zwar nur selten in der Öffentlichkeit zu politischen Themen (etwa indem er 1914 die Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches unterzeichnete und somit den Einmarsch Deutschlands im neutralen Belgien rechtfertigte), hielt aber 1924 seine Ansichten in einem Tagebuch fest, das 1994 in einer kommentierten Fassung veröffentlicht wurde. [1] Darin äußerte er sich unter anderem antidemokratisch und äußerst antisemitisch. Da er 1925 verstarb, wissen wir nicht, wie Frege sich im Nationalsozialismus verhalten hätte; seine schriftlichen Zeugnisse lassen aber darauf schließen, dass er Teil eines damaligen Zeitgeistes war, der der NSDAP den Weg ebnete. Dass solche Ansichten im damaligen Deutschland verbreitet waren, kann ich nicht als Argument zu seiner Entlastung gelten lassen, so wie es auch keinen anderen Zeitgenossen von seiner Verantwortung freispricht. Schließlich war es gerade diese breite gesellschaftliche Unterstützung, die die nationalsozialistische Diktatur und die Shoah möglich machte. Auch das Argument, man müsse die unzweifelhaften mathematischen Errungenschaften Freges von ihm als Person trennen, wird spätestens in dem Augenblick hinfällig, wo eben nicht ausschließlich seine Erkenntnisse geehrt werden, sondern an den Menschen, Naturfreund und Wanderer erinnert wird. Wieso sollen diese, für die Mathematik wohl kaum relevanten, Aspekte seines Lebens Teil des Frege-Gedenkens sein und seine problematischen Anteile ignoriert werden? Ganz abgesehen davon, dass Frege auch als Philosoph geehrt wird und es für mich nicht ersichtlich ist, wie in der Philosophie eine klare Grenze zwischen Wissenschaft und persönlicher Überzeugung gezogen werden soll. Sicher, Frege war Logiker – aber es lässt sich doch argumentieren, dass gerade eine rein logische Herangehensweise an gesellschaftliche Fragestellungen durch ihre vermeintliche Objektivität äußerst gefährlich sein kann, wenn falsche Grundannahmen (etwa die nationalsozialistische „Rassenlehre“) Ausgangspunkt des logischen Schließens sind. Somit halte ich es für äußerst wichtig, dass im Gedenken an Gottlob Frege und der Berichterstattung darüber seine politischen Ansichten und ihr historischer Kontext größere Beachtung erfahren. Damit meine ich nicht eine in einem Satz abgehandelte Distanzierung, die der Beruhigung des eigenen Gewissens dient, sondern eine ehrliche Auseinandersetzung, die zwiespältige Gefühle zulässt und dazu ermuntert, die zugrundeliegende Fragestellung nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Moral mit Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zu diskutieren. [1] https://www.degruyter.com/document/doi/10.1524/dzph.1994.42.6.1057/html

Lena M., Wismar, 07.05.2024

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