Archiv
< Zurück zur ÜbersichtRostock und seine maritime Marktwirtschaft
Nahezu jeder zweite Radausflug in Rostock führt mich von Evershagen in den IGA-Park zum Liegeplatz des dortigen Traditionsschiffs. War ich doch vor 60 Jahren auf diesem Schiff einer der drei Funkoffiziere, auf dem langen Seeweg von Rostock bis hinauf nach Nordchina. Der Blick hinüber zu der meist leeren Außenpier im Überseehafen und hinauf zur Backbord-Brückennock des Schiffes lässt die Gedanken noch einmal von Wismar über Stettin, Swansea, Liverpool, Dünkirchen, die malerische Insel Penang nach Shanghai und Hsinkang dovon ziehen. Nach Penang ereilte uns in der Malakka-Strasse bei molligen 36 Grad in den nicht klimatisierten Aufbauten das 1960er Weihnachten. Der Weihnachtsbaum ward im August der Rostocker Heide entnommen, und fröstelte bis zu Weihnachten in der Fischlast vom Koch. Nach dem er von den dortigen 20 Minus in die 36 Plus der Messe verbracht wurde, ließ er, als der Bootsmann die Lauschaer Christbaumspitze oben aufsteckte, sofort die letzte Tannennadel fallen. Aus zwei Metern Nylon-Schlepptrosse gesponnenes „Engelhaar“ verdeckte komplett das kleine Manko. In Shanghai füllten die Chinesen 6.000 Tonnen Salz in Säcke. Je zwei Mädels in blauer Einheitskleidung zogen und schoben mit primitiver Handkarre 6.000 Tonnen quer durch das riesige Shanghai. Alle vier Stunden wölbten so ca. 150 Dezibel aus einer hohen, ätzenden Lautsprechersäule vor unseren Bulleyes unsere gepflegten Trommelfelle schmerzhaft nach innen. Um Mitternacht und im Tiefschlaf um vier stand ich dann in der Koje, erfuhr aber aus dem Lautsprecher, welche Luke beim Salzeinsacken im sozialistischen Wettbewerb vorne liegt! Dort wurde dann anerkennend, bis zur nächsten Durchsage, der rote Wimpel postiert. Wir bildeten eine Luftgewehr-bewaffnete Selbsthilfegruppe. Visierten durch die leicht geöffnete Klappe der roten Positions-Laterne und ehe die 100 Patronen zur Neige gingen, gelang ein Blattschuss auf ein Kabel der Anschlussdose. Fünf Grad Minus in Shanghai und himmlische Nachtruhe, so schön konnte Seefahrt sein! So verklären diese Erinnerungen (neben 1.000 weiteren) meinen Blick hinauf zur Brücke der „Dresden“, dieses einst so stolzen Schiffes. Eines von 161 die zusammen mit der Deutschen Seereederei von der Treuhand verramscht wurden. Und nun, diesen marktwirtschaftlichen Pfad weiter verfolgend, will die „Hanse“-Stadt Rostock, die 350 Tage im Jahr, nicht den geringsten hanseatischen Hauch wehen lässt, auch noch ihr einziges maritimes Denkmal mit einem „Kletterpark“ fleddern und entweihen. Der „Fichte“ hat man sich ganz kühn (wahrscheinlich auch gewinnbringend) durch Versenken entledigt. Die Werterhaltung vom Eisbrecher „Stephan Jantzen“ muss wohl noch warten, bis auch der bis auf die Spanten abgespeckt ist, wie die „Undine“ an der Holzhalbinsel. Den alten maritimen Krempel eines früheren „Schifffahrs-Museums“ will doch auch keiner mehr sehen, na ja, zumindest nicht die Stadtverordneten einer „Hansestadt“ Rostock! Karl-Heinz Flegel
Karl-Heinz Flegel, Rostock, 23.03.2021