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< Zurück zur ÜbersichtReligion - nein danke?
„Rudi, nun lass‘ es doch mit Deinem Schreiben. Mitunter denke ich, dass das doch niemand hören oder lesen will, was Du da schreibst. Immer Religion, immer Glaube und Kirche – was soll das? Manchmal denke ich, Du hast da einen richtigen ‚Knacks‘". So sprach mich unlängst ein lieber Freund an, der es sehr ehrlich mit mir meinte. Und vielleicht liegt er mit seiner Beobachtung gar nicht weit daneben, denn es tat weh, wehrlos über Jahrzehnte von Staats wegen ‚eingetrichtert zu bekommen‘: Es gibt nur eine einzige wissenschaftliche Weltanschauung, den dialektischen und historischen Materialismus. Unwissenschaftlich dagegen ist der Idealismus. Eine Spielart davon ist die Religion. Besonders schlimm ist dabei die christliche Religion. Und am allerschlimmsten die katholische Kirche…Junge Leute heute können sich kaum mehr vorstellen, was das mit uns als Schüler gemacht hat, denn eigentlich waren wir den Lehrkräften im Staatsbürgerkundeunterricht wehrlos ausgeliefert. Über 30 Jahre nach der politischen und gesellschaftlichen Wende gibt es nach wie vor Leute, die nicht müde werden, diese ihre ‚Weltanschauung‘ zu verkünden. Darum muss man dagegen etwas sagen oder schreiben. Weil junge Leute von diesen Machenschaften staatsbürgerlicher Indoktrination eben nichts kennengelernt haben und darum anfällig sein können für derlei ‚Meinungsbildung‘. Im Leserbrief, unter der Überschrift „Harte Zeiten“, kommt der Autor zu dem Schluss: „Gemeint ist der Austritt aus der Kirche, die …zu praktizierende Abwendung vom Glauben an eine Sinnhaftigkeit dieses Konstrukts, dieses von Menschenkopf und Menschenhand geschaffene.“ Das, so der Autor, sei die Antwort auf den Missbrauchsskandal, zumal die Kirche ohnehin die „Daseinsberechtigung verloren hat.“ Wirklich? Über die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs in Familien, Schulen, im Sport, in Kirchen, in Freizeit – und Kultureinrichtungen müssen wir nicht diskutieren. Auch nicht über die Priorität des Opferschutzes. Da sind wir uns einig, dass hier ein Problem vorliegt, das längst noch nicht aufgearbeitet ist. Man vergleiche in diesem Zusammenhang nur einmal Äußerungen prominenter Grüner und deren frühere Parteiprogramme! Doch hat deshalb Religion keine Daseinsberechtigung? Dieser Schluss ist so wenig plausibel, wie die Forderung zur Abschaffung der Mathematik, weil es schlechte Rechner gibt. Schade, dass der Autor nicht weiter reflektiert über Religion, sondern stattdessen seine unbewiesenen Behauptungen in die Welt setzt. Hätte er sich mit dem Thema wirklich beschäftigt, hätte er vielleicht einen ganz anderen Schluss gezogen. Und auch, wenn manch‘ Leserbriefschreiber es nicht so gerne liest oder hört: Ich kann es nicht besser ausdrücken als Eugen Drewermann, der zum Anliegen von Religion schreibt: „Person entsteht, indem ein Individuum ein anderes anredet als unverwechselbar, mit einem eigenen Namen…Jedes Kind wird auf diese Weise groß und einzig dieser Weg führt dahin, sich als eine individuelle Person zu erleben…Von da an beginnen all die Fragen, auf welche die Natur keine Antworten mehr hat. Sie führen dahin, dass wir uns eine Macht vorstellen, die selber Person ist und die von Anfang an mit uns geredet hätte.“ Weil wir als Menschen Personen sind mit Fragen und Erwartungen, auf die die Natur – fast hätte ich gesagt ‚naturgemäß‘ - keine Antworten (mehr) hat – kann so etwas wie Religion überhaupt entstehen. Genau darum wird Religion auch bleiben.
Rudolf Hubert, Schwerin , 13.02.2021