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Wohin taumelt Europa?

Vor 180 Jahren schrieb Heinrich Heine in seinen Nachtgedanken die Worte: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ In der gegenwärtigen Zeit treffen Heines Worte nicht nur auf Deutschland, nein, sie treffen auf ganz Europa zu. Und wenn ich Europa schreibe, dann meine ich damit das gesamte Europa und nicht nur die EU. Wenn Europa zukünftig in der Welt noch gehört werden möchte, dann muss es mit einer Stimme sprechen, das heißt einschließlich Russlands An dieser Stelle erwähne ich auch zwei Sätze von Altkanzler Helmut Schmidt, mit denen er sein Vorwort im Buch „Mein Leutnant“ von Daniil Granin abschließt. Sie lauten: „Russland ist der größte Partner und der mächtigste Nachbar in Europa. Ohne Russland kann es in Europa keinen Frieden geben.“ Die westeuropäischen Staaten müssen sich dazu durchringen, mit Russland zusammenzuarbeiten. Denn nur mit Russland gemeinsam hat Europa eine Chance, eine wichtige Rolle in der Welt einzunehmen. Der gegenwärtige Krieg zwischen Russland und der Ukraine erschwert den Weg zu einem Miteinander. Ein nicht einiges Europa verschwindet von der politischen Weltbühne und über kurz oder lang bestimmt China, wo es entlang geht. Europäische Einigkeit mit Russland zu erlangen, erfordert schmerzhafte Kompromisse von der EU, von Russland und von der Ukraine. Unsere führenden politischen Häupter müssen sich darüber klar werden, dass mit Aufrüstung und mit der Annahme, Russland bekommt Angst, wenn viele, viele Kanonen gen Osten gerichtet sind, kein einiges Europa geschaffen wird. Ist Russland überhaupt ein Gegner des westlichen Europas? Der russische Präsident, Wladimir Putin, erhielt während und besonders nach seiner Rede im Januar 2001 im Deutschen Bundestag einen nicht enden wollenden Applaus von allen Abgeordneten. Er äußerte u.a.: „Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festlegen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturresourcen, sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.“ Warum ist unsere Regierung nach der von den Damen und Herren unseres Bundestages sehr zustimmend aufgenommenen Rede nicht auf den Präsidenten Putin zugegangen? Vielleicht hätte dann der Krieg zwischen Russland und der Ukraine vermieden werden können? Nun haben sich in diesen Tagen die BRICS-Länder in der russischen Stadt Kasan getroffen. Die Bemühungen der westlichen Staaten, Russland auf der internationalen Bühne zu isolieren, laufen damit ins Leere. Es wäre falsch von der EU, in diesem Staatenbund einen Gegner zu identifizieren. Besser ist, Gemeinsamkeiten zu suchen und Kontakte zu knüpfen und zu pflegen. Es könnte der Anfang für eine neue Weltordnung sein, in der das Wort Krieg keinen Platz mehr hat. Doch bereits heute gilt: Die NATO macht nur Sinn, wenn es einen potenziellen Gegner gibt, der Westeuropa und die USA zerstören möchte. Unter der Annahme, Russland tritt der EU bei, fehlt der Gegner. Und das hieße: keine NATO, keine Bundeswehr, keine 2 % Rüstungsausgaben, kein Verteidigungsministerium einschließlich Chef und Mitarbeiter. Übrig bleibt die Entsorgung von herumliegender alter Munition an Land und im Wasser aus vergangenen Kriegszeiten.

Winfried Schwarzer, Rostock, 25.10.2024

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