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< Zurück zur ÜbersichtGoldstaub in Ueckermünde
Vom Pechvogel zur Goldmarie. Klingt märchenhaft? Ist es! Ich bin im Ruhestand. Seit drei Jahren habe ich Zeit für mich, endlich. Endlich darf ich machen, was ich will. Kein Stress mit Job, Pendeln, Chefs, Mitarbeitern, täglichen nervigen Unzulänglichkeiten endlich vorbei. Das Hamsterrad endlich verlassen zu können: das ganz große Glück. Und dann sitzt da der kleine dicke Hamster ohne Käfig, ohne seine vermeintliche Karriereleiter und ihn befällt Angst. Panik. Was nun? Mit gewohntem Hochdruck geh ich in mich, was ich eigentlich selber für mich will. Denn nichts ist peinlicher als die Frage 'was machste denn nun eigentlich? Du könntest doch jetzt...' ;...'Einfach mal nichts' ist zwar genau das, was in mir rumort. Wobei: Genau! Herausfinden, was will ich, wenn kein Chef an mir rumzerrt, keine Mutter mich mehr ablehnt, kein Dussel meine Zeit stiehlt, kein Mitarbeiter alles besser weiß, jeder Tag frei ist. Dabei ist das plötzlich sehr viel weniger zur Verfügung stehende Geld das absolut geringste Problem. Oh ja, nie genug Zeit für Kinder und Enkel gehabt; jetzt aber! Und fast zeitgleich platzt eine Blase nach der anderen, als hättest du vorher einfach nix geschnallt. Was so abgeht um dich herum. Du bekommst (vermeintlich unvermittelt) von deinen Kindern die rote Karte, keine Enkelbesuche, aus. Du verstehst die Welt nicht mehr, warst doch immer lieb, wolltest alles besser machen als die eigenen Eltern und kannst dir mit dieser neuen Situation eigentlich kein Weiterleben vorstellen. Der Schmerz in der Brust wird so unerträglich und du kannst es niemandem erzählen. Weil du dich so schämst. Bist so alt und hast keine Ahnung? Aber doch: du ahnst gerade, dass der Schmerz gar nicht so neu ist. Du hast ihn bloß immer runtergeschoben. Und eigentlich...ist so ein Tiefpunkt das größte Geschenk. Jetzt hast du Leidensdruck. Und Zeit. Musst was tun. Auf die Stimmen hören, die dir sagen, wo es lang geht. Und danke Gott, dass diese viele schlechte Energie aus Schuld, Verzweiflung, innerer Ablehnung, endlich rauskommt. Wann, wenn nicht jetzt, wo alles hochkommt. Raus kommt. Und mit jedem AHA-Effekt wächst Hoffnung... Es geht weiter. Besser. Ich habs erlebt. Was hat mir geholfen? Ein Raum, wo Leute mit Verlassensängsten, Verlassenserfahrungen zusammenkommen. Ohne Anspruch. Ohne Erwartungen. Aber mit dem energetischen Willen, etwas in ihrem Leben zu ändern. Sie allein. Wo es nie wieder um Schuld und Scham geht, nie wieder um Unzulänglichkeit. Einfach sein. Losschreiten in eine neue Richtung mit den Erfahrungen an der Hand, die andere teilen. So wie bei mir. Ich bin so glücklich, diese Selbsthilfegruppe gefunden zuhaben. Die Selbsthilfegruppe „Verlassene Eltern“. Und dabei merke ich, dass ich mich auf jeden ersten Dienstag im Monat von 18 bis 18 Uhr freue. Und in der Zwischenzeit habe ich frei, muss mir nicht den Kopf zerbrechen, ich hab ja endlich meinen Kanal gefunden. Du kannst was sagen, musst aber nicht. Du kannst heulen, aber auch kichern. Endlich. Das befreit. Du kannst einfach nur zuhören und deine eigenen Gedanken bestaunen. Sie sind gigantisch. Sie waren schon immer da und endlich sprudeln sie raus. Und das ist Goldstaub. In Ueckermünde. Komm wieder. Es hilft.
Anonym., Ueckermünde (Name dem Verlag bekannt), 20.06.2022